Prägend

Der Fremde neben mir schien auf den Zug zu warten. Gedankenverloren schnippt er immer wieder eine große, silberne Münze empor.

„Ihr Zug?“, frage ich. Der Mann neben mir scheint so versunken in die Betrachtung seiner fliegenden Münze, dass ich befürchten muss, er würde ihn verpassen, stünde er auch auf den Gleisen. Doch er blickt nicht auf. Er nickt nur und starrt weiter auf die Münze. Der Zug kommt, hält mit dem erwarteten Lärm und öffnet seine Türen. Doch bevor der Versunkene in seinen Zug einsteigt, schnippt er mir kurzerhand seine geliebte Münze zu. Ich protestiere, nachdem die Verwunderung über das unerwartete Geschenk und die Eleganz, mit der ich sonst nicht zu fangen Pflege verklungen sind. Der Mann schien auf den letzten Moment gewartet zu haben, als ob er es geplant hätte. Ich habe keine Zeit, Fragen zu stellen. Die Türen schließen sich, der Zug fährt an.

Ich blicke auf die Münze, während der Zug an mir vorbeifährt. Ich sehe mich um. Niemand steht am Bahnsteig. Kein Zeuge dieser ungefragten Übergabe. Ich blinzle, sehe in die Hand: Die schillernde Münze ist leer. Groß, silbern, aber glatt wie ein Spiegel. Meine ganze Fahrt in die Gegenrichtung des Zuges des Fremden brennt mir diese Münze auf der Tasche. Ich befingere sie in der Tasche, bis sie ganz nass und klebrig ist. Ich blicke sie an, zwinge mich im Kopf zu Erklärungen, die mir alle nicht recht gefallen. Der Juwelier, meiner Heimatstadt, der Schmied und der unsympathische Bankier bestätigen ihren Wert unabhängig voneinander. Jeder, der sie sieht, erkennt sofort, dass sie wertvoll ist. Auch im Zug, bei meiner Fahrt vom Ort der Übergabe ziehe ich sie ständig heraus, doch immer noch ist sie leer.

Wochenlang gehen meine Besuche zu den illustren Vertretern der verschiedensten Künste. Niemand hält mich für verrückt; wo ich mir dies doch schon fast wünsche. Niemand schlägt mir ab, sich diese Münze sehr genau anzusehen. Doch alle sind ratlos.

Zu Hause, nach dieser wochenlangen Plackerei, finde ich mich verzweifelnd, dem Umstand erlegen, dass keiner erriet, was diese Münze von mir wolle. Auch finde ich mich da mit leeren Taschen liegend vor. Ich beginne panisch zu suchen.

Plötzlich direkt vor mir, auf der Kante auf dem Tisch. Ich schaue sie an, ich blicke zurück. Mein Konterfei, keine Schrift, keine Prägung. Nur diese leere, saubere Münze und mein Gesicht, ein verwundertes, verschwitztes Gesicht, das zurückblickt. Ein Gesicht, das gelernt hat, dass auch eine Münze, welche schwer in der Tasche liegt und trotz ihrer Leere fasziniert, offenkundig sogar sehr wertvoll ist, verloren ginge, passte man nicht auf sie auf. Ich ärgerte mich, für den Gedanken sie wäre aus Gnade vor meinen Augen auf den Tisch gehüpft. Doch unheimlich war mir das Wiederfinden auf dem Küchentisch dennoch. An der Kante irritiert mich nun etwas. Etwas ist anders. Etwas kitzelt die Fingerkuppen und jagt mir einen Schauer über den Rücken. Von der Suche geplagt, meiner Schusseligkeit gepeinigt drehe ich sie ahnend, langsam in meiner Hand. Winzig finde ich am Rand etwas, von dem ich schwören werde, alle Schwüre, dass es zuvor nicht da gewesen sein konnte, als ich die Münze in der Tasche eins ums andere Mal herumgedreht habe. Eine kleine, makellos geprägte, feine 1. und der Tausende fragen, die ich noch hatte zusprechend, veränderten diese sich indessen alles brennend auf jene Zahl. Eine Frage. Brennend wie die Tausenden, wenig ernsten, doch drängenden und unverstandenen Münzen zuvor.

Viele Jahre später fingere ich wieder an dieser eins, die sich zuerst aufgetan hatte, herum. Wieder brennt diese Münze in der Tasche. Doch auch wenn sie nun nicht mehr einsam dort steht und die Münde insgesamt nicht weniger leer sein könnte, kann ich nicht aufhören sie zu befühlen. Jeden Tag, so scheint mir, entdecke ich neue Inschriften. Zuletzt, sicher, wurden sie kleiner, ob des mangelnden Platzes, kaum mehr so kunstvoll und ich war wütend auf die Münze. Bis heute hatte ich nicht begriffen, wie schön doch jene Zeichnungen waren, die ich abertausende Male betrachtet hatte, um sie zu ergründen. Nunmehr sah ich sie durch Augen, welche es vermochten, trotz des Rätsels diese Schönheit zu erkennen. Es waren Augen, die sich trennen mussten, die jedoch, da ich sie geben musste, ebenso festhalten wollte, wie, als ich sie bekommen hatte.

Ein Mann neben mir fragt nach dem Zug. Ob es der Meine sei, der da komme. Ich blicke nicht auf. Beobachte wie sich die schwere, wunderschöne Münze im Fluge dreht und schimmert. Sie fällt in meine Hand zurück. Ich nicke freundlich, schaue den Mann nicht an, dessen Gesicht ich oft genug gesehen hatte. Ich schnippe ihm die Münze zu. Er fängt sie. Ich steige in meinen Zug. Ohne Münze. Dort, wo ich nun hinfahre, kann ich sie ohnehin nicht mitnehmen. Der Mann ruft noch etwas, dass ich nicht verstehe. Ich lache. Am Fenster winke ich freundlich. Er blickt in seine Hand. Verwundert über das, was er dort findet.